"Wie tolerant ist unsere Hauptstadt?"
Das BILDungsbürgerblatt fragt an. Ich antworte.
Ich weiß nicht, ob der Berliner überhaupt weiß, was Toleranz ist. Sicher, das Wort ist ihm bekannt, es hat allerdings keinerlei praktischen Nutzen für ihn.
Der Berliner, der echte, der hier geborene und aufgewachsene, sozialisierte und drangsalierte wird das Wort Toleranz höchst selten in seinem Leben gebrauchen, wenn überhaupt. Standard ist eher "Dit iss mir wurscht" oder "Dit iss Jacke wie Hose". Das ist es wohl, was des Berliners Toleranz ausmacht, die höfliche Darbietung von Desinteresse. Mach dein Ding, "jeht mich nüscht an". Daß dies von ethnolgischen Blindschleichen als Toleranz definiert wird, ist mir wurscht, da die eh nicht kapieren, wie der Berliner tickt.
Dem Berliner Toleranz zu unterstellen, das passiert nur bei Außenstehenden, die sich ein Phänomen erklären wollen müssen, was nicht erklärbar ist. Ich will gar nicht erst auf den Sachverhalt eingehen, daß in Berlin etliche Menschen wohnhaft sind, hier leben, arbeiten, sich erholen und entspannen, die keine Berliner sind und auch keine Chance haben, je einer zu werden. Auch das ist mir wurscht.
Aber genau an jenen wird sich gerade abgearbeitet und deren Verhalten als Maßstab für die Toleranz der Berliner ausgelotet. Einem echten Berliner Kneipenwirt wäre es egal, welche Gäste wie lange in seinem Etablissement speisen und trinken, solange sie sich ruhig verhalten und am Ende auch bezahlen. Die Zeiten, da es an jeder Straßenkreuzung 4 Kneipen gab, eine für KPD, eine für SPD, eine für NSDAP und die letzte für den Rest, die Zeiten sind lange vorbei.
Doch sei es wie es geschrieben ist.
"Ich dachte, alle wüßten, dass Berlin die toleranteste Stadt in Deutschland ist. Es ist die einzige Stadt, die toleriert, dass die Regierung dort ihren Sitz hat." (S. 60)
Dieser Sicht auf die Toleranzproblematik kann ich beipflichten. Die stammt allerdings nicht von mir, sondern von
Philip Kerr
Die Adlon Verschwörung
1. Auflage März 2010
Rowohlt Verlag GmbH, Reinbeck bei Hamburg
573 Seiten
Kerr hat Bernie Gunther, den ersten und einzigen Privatdetektiv während der Zeit des Faschismus und danach, in ein neues Abenteuer geschickt. Mitte der 30er Jahre steht die Vorbereitung der Olympischen Spiele in Berlin an. Gunther, als Hoteldetektiv im Adlon tätig, muß eine Reihe von Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Die erste ist ein Polizist, dem er ein Messer in den Bauch rammt, auf daß der nicht mehr erwacht*. Oder war es seine Faust auf dessen 12? Ich weiß es schon nicht mehr, weil es nur für ein paar belanglose Einflechtungen in der Romanhandlung gut ist und keine tragende Funktion im literarischen Konstrukt hat. Eigentlich gar keine. Hätte man auch weglassen können.
Die eigentliche Handlung dreht sich um Korruption und Scheinereien rund um das berliner Olympiastadion und den damit befaßten Personenkreis, der sich auf korrupte Amerikaner und Nazis eingrenzen läßt. Eingrenzen lassen muß, das Buch hat nur knapp 600 Seiten.
Eine hübsche, aufklärerische amerikanische Journalistin darf nicht fehlen, die er ncht bekommt, diverse Morde, gefährliche Situationen usw.
Die beiden Vorgänger mit Gunther waren eine ganze Klasse besser. Gemach, auch hier kommt kaum Langeweile auf, obwohl die Handlung geradlinig entwickelt wird, im wesentlichen ohne Leimspur auskommt und durchsichtig ist. Relativ frühzeitig sind alle Handlunsgstränge und Personen eingeführt. Bis zum Ende durchzuhalten ist dann leserische Fleißarbeit. Auch wenn es scheinbar ein Butter- und Brotthriller des Schotten ist, mit dem schreibt er immer noch locker alle deutschen Krimiautoren an die Wand, auf daß man freiwiliig seine deutschsprachigen Autoren der sekundären Wiederverwertung zuführt. Früher hätte eine Berliner gesagt, daraus machense Klopapier. Heute wäre er tolerant und würde behaupten, man diene so der Umwelt und dem Gender.
Doch denkste. Philip Kerr wäre nicht Kerr, wenn er nicht doch einen grandiosen Zungenschnalzer auf der Pfanne hätte, der das Buch regelrecht kippt und aus fleißigem Lesen Wißbegierde werden läßt. Man legt den Wälzer nicht mehr aus der Hand, bis die letzte Seite verschlungen ist.
Was er sich wie in welchem Zusammenhang und warum mit welchem Spannungsbogen hat einfallen lassen, das sei hier nicht verraten. Entweder kauft ihr euch die Schwarte oder ihr borgt sie euch aus.
Einen kleinen Tipp habe ich parat. In dem Buch spielt noch einmal ein Rolle, daß er in der Ukraine in einem Mordkommando der Polizei tätig war, das russische Offiziere erschießen mußte. Klick muß es jetzt bei euch als Kenner der Geschichte machen, das war doch weit nach den Olympischen Spielen 1936. Genau, sage ich da nur, das war weitaus später.
"Die deutsche Geschichte ist nichts weiter als ein Abfolge lächerlicher Bartmoden." (S. 104)
"Es gibt keine Wahrheit in der deutschen Geschichte" (S. 106)
Dann wird uns noch eine schriftstellerische Lektion erteilt, die sich so mancher Politiker an seinen Spiegel pappen müßte.
Wenn jemand ermordet wird - ganz egal, wer er war -, dann wird ermittelt. Man ermittelt, weil es das ist, was man tut, wenn man in einer anständigen Gesellschaft lebt. und wenn man es nicht tut, wenn man sagt, dass der Tod eines Mitmenschen nicht wert ist, untersucht zu werden, dann ist die Arbeit selbst es nicht mehr wert, gemacht zu werden." (S. 115)
Es soll ob dieses Zitats nicht unerwähnt bleiben, daß Kerr einen ähnlich qualitativ hochwertigen Schluß zu Papier gebracht hat, wie Daniel Suarez in Daemon, einen dämonischen, von Moral entkernt. Die beiden Enden sind nicht identisch, gehören jedoch zur selben tollen Wurst, lecker zu lesender Lektüre.
* If the dead rise not, so der originale Titel des Buches, entspricht dem Ende des Romans weitaus besser als die bekloppte deutsche Übersetzung. Wenn die Toten nicht auferstehen... dann ist das oftmals besser.
Kommen wir also zur Ausgangsfrage in diesem Post zurück, ob Berlin nun tolerant oder was auch immer ist.
...wenn die Deutschen ihre Regierung brauchen, um die Dinge zu regeln, dann sitzen wir wirklich tief in der Tinte. Ich glaube, letztlich lassen sich die Deutschen einfach regieren. Man muss nichts weiter tun als einmal im Jahr ein neues Gesetz machen, das da lautet: 'Tut verdammt nochmal, was man euch sagt!'" (S. 110f)
Schauen wir also optimistisch in die Zukunft und auf das tolerante Berlin, da "Optimismus nichts weiter ist als eine jener naiven Hoffnungen, die sich aus schierer Unwissenheit speisen." (S. 529)
Schauen wir in das zukünftig tolerante Berlin, um zu verhindern, daß es eintritt. (ähnlich S. 75)