27. Juni 2012

alle Stasi, außer Hitler



Seit nunmehr 67 Jahren befleißigen sich die Deutschen der Geschichtsklitterung. Oder gar noch länger. Zählen auch des glorreichen Kaisers verlorene Schlachten zu geklittetem Geschichtswerk? Wir wissen nicht, ob des Kaisers Bart auf die Größe vom Schnäuzerle des Führers beschnitten wurde. Was wir definitiv wissen, ist das, was die staatliche Propagandapostille aus Hamburg herausposaunt hat.

Die NSU-Terroristen hatten schon 1998 einen Supermarkt überfallen, schreiben sie ab und auf.

Es seien zwei Schüsse abgefeuert worden, dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) habe die Tat durch später gefundene Patronenhülsen zugeordnet werden können.

Ja, so steht es wirklich auf den Seiten der geschichstkritischen Kriminalzeitschrift. Supermarkträuber werden rückwirkend zu Terroristen erklärt, da erst später aufgefundene Patronenhülsen den Zusammenhang zum Terrorismus erkennen ließen.

Ja, und warum hat man dann nicht zugegriffen? Später? Als die Patronenhülsen dem Terrorismus zugeordnet waren?

Heilige Einfalt, heileige Vorhaut, möchte man da im Sinne der Monthy Pythons ausrufen. Die Vorhaut ist uns dermaßen heilig, daß man am besten ganz auf sie verzichtet, woraufhin drüber gerichtet und der Rest im Netz gedichtet wird.

Sorgen wir zumindest in diesem Blog, der sich der Geschichte und den Geschichten verpflichtet fühlt, sorgen wir ein für alle mal für Klarstellung. Auch die Christen? Auch die Christen huldigen und verehren die abgeschnittene Vorhaut. Das kommt oft vor.

Sei dies dem geschichtlichen Vergessen entrissen, so sei anderes der historischen Kloake übereignet.

Die geschichtspädagogische Zeitschrift aus Hamburg beschwert sich darüber, daß viele Schüler erschreckend wenig über die deutsche Geschichte wissen.

Damit bin ich bereits beim Thema. Wo kann man schon solche schöne Sätze lesen? Nur da, wo Geschichte zu Geschichten umgedichtet wird. Im Spiegel. Und Focus.

Das Problem mit euch Amis ist nämlich, dass ihr euch einbildet, ihr hättet den Krieg gewonnen, wo doch jeder weiß, dass es die Russen waren. Ohne euch und die Engländer hätten sie vielleicht länger gebraucht, um uns zu besiegen. Aber besiegt hätten sie uns. (S. 293)

Irrtum. Auch im Spiegel. Auch im Focus. Konkret aber in einer der dicksten Geschichtsklitterungen der letzten Jahre.

Für Bernie Gunther sieht es wieder mal nicht gut aus. Aufgefischt bei Guantanamo, als er aus dem vorrevolutionärem Cuba entfleuchen wollte, wird er nach Deutschland expediert, um den Amis etwas unter die Arme zu greifen. Sie interessieren sich für ein paar Kriegsverbrecher, über die Gunther möglicherweise Details weiß, die den Unterschied zwischen Hanfseil oder lebenslänglicher staatlicher Fürsorgepflicht ausmachen.

Außerdem weiß Gunther, der in den 30ern als Kriminaler in Berlin tätig war eine Menge über den Fall Mielke. Noch viel mehr weiß Gunther aber darüber, warum Mielke den Krieg überlebte. Und genau das interessiert die Amis am meisten. Gunther wiederum hat nur noch Interesse daran, Elisabeth zurück zu erobern. Was das wiederum mit Milke zu tun hat? Ich weiß es.

Es ist der dritte Roman mit Bernie Gunther aus der Nachkriegszeit. Eine Schreibklasse Schwäche als die vorangegangenen. Das sich der Autor aber keinen Deut um Geschichte, sondern nur um seine Geschichten schert, sie ihm das verziehen, denn es liest sich allemal noch zehmal spannender als die in edles Leder gebundene Jahresausgabe des Spiegel.

Nur jener Teil, der die Geschehnisse rund um das Heimkehrerlager Friedland beschreibt, jener Teil ist in "Das unsichtbare Visier" spannender und ausführlicher behandelt worden. Nicht desto trotz von Kerr identisch mit der in der DDR geltenden literarischen und filmischen Fassung, einschließlich der in Kriegsverbrechersuche glücklos agierenden Franzosen.

Ganz im gegenteiligen pädagogischen Sinne führender deutsche Magazine rufe ich also aus:

Hitler oder Mielke? Mir doch egal!

Hauptsache spannend erzählt.

Philip Kerr
Mission Walhalla
1. Auflage, Juli 2011
Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
542 Seiten