3. Mai 2021

Lektüre aus dem Giftschrank

Kolja Zydatiss

Achgut.com-Autor Uwe Jochum weist auf seinem Blog auf die Tatsache hin, dass die Universitätsbibliothek Freiburg eine Art „betreutes Lesen“ betreibt. Einige im neurechten Verlag Antaios erschienene Bücher seien von der Ausleihe gesperrt worden und dürften nur im „Sonderlesesaal“ der Bibliothek und auch nur zu wissenschaftlichen Zwecken benutzt werden, darunter die Titel „Nationalmasochismus“ von Martin Lichtmesz und „Umvolkung“ von Akif Pirinçci. Auch „Das Heerlager der Heiligen“ (1973), in dem der verstorbene französische Schriftsteller Jean Raspail in fiktionaler Form die gewaltfreie Invasion Europas durch verelendete Menschenmassen der Dritten Welt schildert, sei in den Sonderlesesaal verbannt worden.
Das kenne ich. Ich hatte ja in der DDR auch einen Giftschein und durfte die für meine Arbeit relevante Literatur über die Staatsbibliothek in Leipzig bestellen. Die hatte nicht alles vorrätig, so daß einige Dinge per Fernleihe aus Westberlin oder Frankfurt am Main angeliefert wurden.

Auch für mich galt eigentlich, daß ich das Zeugs nur im streng geheimen Lesesaal konsumieren sollte. Einer meiner Paten hat jedoch ob der schieren Menge an Seiten beide Augen zugedrückt und mir die Mitnahme in das Studierzimmer durchgehen lassen. Das Studierzimmer erstreckte sich teilweise bis Berlin.

Mich überraschen die deutschen Zustände mitnichten.

Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzu­führen.