21. August 2006

Würstchenbudenjournalismus

Das Jahr ist zwar erst zu zwei Dritteln absolviert. Doch bezogen auf die journalistischen Glanzleistungen wird es keine Überraschungen mehr geben.
Gen Jahresende werden wieder Dutzende Journalistenpreise ausgelobt, die auch noch alle ihre laudierten Empfänger finden werden.
Dabei kann bereits jetzt festgestellt werden, daß es ein journalistisch verschenktes Jahr ist. Verschenkt, weil es große Themen gab, die auf Laubenpieperniveau abgehandelt wurden.

Würstchenbudenjournalismus in seiner Höchstform wurde in dieser Saison in den größten und wichtigsten Spielstätten gegeben. Oder: Kugelschreiberzocken bis zum Abwinken. Wer nichts schreibt, hat schon verloren.
_______________

Im "Karikaturenstreit" wurde die Chance verpaßt, das Leben unter dem Pendel zwischen Freiheit, Demokratie und Diktatur in der Bundesrepublik abzuhandeln. Stattdessen beschränkte man sich darauf, die Pressefreiheit einer dänischen Provinzzeitung zu verteidigen.
_______________

Zur Fußball-WM wurde ein neuer deutscher Patriotismus entdeckt, der inzwischen vollkommen in der Versenkung verschwunden und vom eintönigen Alltag zwischen "Kanzlerin Merkel hat..." und "Das Wetter..." plattgewalzt wurde.
Und dieser Alltag, glaubt man den öffentlich geäußersten Herzenswünschen führender Politiker, sieht möglicherweise in naher Zukunft so aus: Wenn schon deutsche Fahnen, dann bitteschön auf deutschen Särgen.
_______________

Das Thema Grass beherrscht seit Tagen das bürgerliche Feuilleton, das nicht mal mitbekommt, daß es keinen interessiert. Die saften sich wieder mal selber aus, statt an die Wurzel des Übels zu gehen.
Der Fakt ist eigentlich ganz simpel. Ein eitler, in sich selbst und seine Geldbörse verliebter Schriftsteller hat kurz vor Ultimo auch noch seine Kriegserinnerungen zu Papier gebracht, die niemanden hinter dem Ofen hervorlocken würden. Denn das gab es vor ihm bereits in Hülle und Fülle in jüngeren Altersregionen. Und zuweilen auch noch sehr gut.
Zum Fakt gehört auch die simple Erkenntnis, daß die bürgerliche westdeutsche Klasse nie auch nur den Versuch unternommen hat, einen Schlußstrich unter das Kapitel Faschismus zu ziehen. Sie hatte nicht mal damit angefangen, sondern ihre Herrschaft, allerdings persilgewaschen, fortgeführt.
_______________

Und aktuell, ebenfalls exemplarisch für das Versagen der Journalistengilde, wird eine Scheindebatte über und um die Gefahren des Terrorismus geführt. Zuerst war die von Verantwortlichen in London ausgerufene Panikattacke der Anlaß. Wobei verantwortungslos möglicherweise die treffender Wortwahl in diesem Falle wäre.

Nun schlägt man hierzulande Purzelbäume und saugt sich die Stories um die Wette aus den Fingern.
Bis einschließlich heute ist eigentlich ausschließlich bekannt, daß sowohl in England als auch in Kiel und anderswo Vorgänge untersucht werden, die eventuell einen terroritischen Hintergrund haben könnten.
Mehr weiß weder Focus, ARD-Tagesschau, N24, BILD, Spiegel und wie sie alle heißen.
Und falls sie mehr wissen, dann sagen bzw. schreiben sie es nicht. Stattdessen wird der Würstchenverkäufer als Kronzeuge journalistischen Arbeitseifers aufgefahren, damit auch der letzte begreift, wie gefährlich nah dran wir sind.
_______________

Exemplarisch an den deutschen Vorgängen muß SPON für die Beweisführung herhalten.
Die Jagd ist hiermit eröffnet.

20. August 2006, 14:15
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,432547,00.html

Berlin - "Wir versprechen uns dadurch ein weiteres Plus an Sicherheit", sagte ein Konzernsprecher in Berlin. Man werde voraussichtlich mehr Bahnhöfe als bisher mit Kameras ausstatten, aber auch an den bereits überwachten Bahnhöfen die Zahl der Kameras erhöhen.


Mehr Videokameras bringen aber nicht mehr Sicherheit, auch wenn es hundertmal wiederholt wird.

20. August 2006, 09:35
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,432531,00.html

Kommilitonen berichte, er habe Jeans und T-Shirt getragen. Zu seinen Gebetszeiten allerdings wechselte er die Kleidung.

20. August 2006, 17:32
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,432563,00.html

Mitbewohner in seinem Wohnheim schildern ihn gegenüber SPIEGEL ONLINE als fromm, sonst unauffällig, "völlig normal" und "höflich".
Und Nguyen sagt: "Die Männer mit den Bärten machten mir manchmal Angst."
Einer der deutschen Mitbewohner berichtet, Youssef habe viele Besucher empfangen, Araber und Nordafrikaner. Er habe auch Infoblätter über den Propheten Mohammed verteilt.
Ein osteuropäischer Student, der nicht genannt werden will, beschreibt den jungen Libanesen als "unterdurchschnittlich intelligent". Sein Deutsch sei nicht besonders gut gewesen, im Gespräch habe er nicht überzeugen können. Diese Einschätzung teilt Jürgen Müller, bis Anfang August Leiter des Kieler Studienkollegs.

21. August 2006, 07:50
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,432582,00.html

Jagd auf den zweiten Bombenleger

Der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, August Hanning, vermutet eine Gruppe hinter den beiden mutmaßlichen Bombenlegern.

21. August 2006, 13:17
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,432671,00.html

Regierung geht von Hintermännern aus
Die beiden Bahn-Bombenleger sollen keine Einzeltäter sein.
"Mein Eindruck ist, dass da schon mehrere mitgewirkt haben im Hintergrund", sagte Innenstaatssekretär August Hanning...

Ähnlich hatte sich gestern die Generalbundesanwältin Monika Harms geäußert, ... Die für die Kofferbomben erforderliche komplizierte logistische Vorbereitung lasse darauf schließen, dass...

21. August 2006, 17:11
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,druck-432756,00.html

Entscheidender Hinweis kam aus dem Libanon

"Die deutschen Behörden wurden nach der Veröffentlichung der Überwachungsvideos im Lauf des Freitags vom libanesischen militärischen Nachrichtendienst auf den Verdächtigen hingewiesen. Berichten zufolge kamen die Libanesen dem mutmaßlichen Terroristen durch abgehörte Telefonate auf die Spur."


Hinter dieser kurzen Ansage wird dann fröhlich weiter fabuliert. ***

"Wir haben die Sorge, dass es einen libanesischen Hintergrund gibt", unterstrich Hanning.
Auch der Orientexperte Udo Steinbach sagte im ARD-Mittagsmagazin, die Bahn-Attentate seien "sicherlich nicht von einem einzigen oder zweien geplant worden". "Das weist in den Nahen Osten und lässt auch eine längerfristige Planung erkennen."

Nach Auskunft von Mitbewohnern seines Studentenheimes ist Youssef Mohamad E.H. stark religiös. Der 21-jährige Libanese habe den Islam streng ausgelegt, sagte ein gleichaltriger deutscher Zimmernachbar aus der Wohngemeinschaft heute. Youssef Mohamad E. H., gegen den gestern Haftbefehl erlassen wurde, habe täglich auffallend viel Besuch von Glaubensbrüdern gehabt und oft im Keller des Hauses einen Gebetsraum benutzt.


!!! Allerdings heißt es dann auch !!!:

BKA- Chef Jörg Ziercke hatte am Samstag nach der Festnahme des mutmaßlichen Bombenlegers erklärt, es gebe bisher keine belastbaren Erkenntnisse über islamistische Hintergründe.

Der Kieler Mitbewohner des Libanesen sagte der dpa, der 21-Jährige sei am vorvergangenen Mittwoch von einer Reise aus dem Libanon zurückgekehrt. Er habe ihm erzählt, dass sein älterer Bruder bei einem israelischen Militäreinsatz getötet worden sei.

"Er ist in keiner Weise als besonders religiös auffällig gewesen, weder durch Kleidung noch durch sonst irgendetwas", schilderte der kommissarische Kollegleiter, Rainer Wurow-Radny... Auch ansonsten sei der 21-Jährige völlig unauffällig gewesen.
Dagegen berichteten Mitbewohner, der bärtige Libanese sei wegen seiner religiösen Haltung und seiner Erscheinung angefeindet worden. Auch sei er der einzige Muslim im Wohnheim gewesen, der seinen Bart über die ganze Zeit des Studienkollegs hinweg beibehalten habe.

____________

Das muß man sich also mal auf der Zunge zergehen lassen, was SPON da zusammenschmiert. Hätte, könnte, würde, eventuell...

Und was denn nun streng religiös mit Bart oder nicht streng und trotzdem Bart?

Weil keine belastbares Faktenmaterial vorhanden ist, avancieren anonyme oder benamste Würstchenverkäufer, Mitstudenten und Heimleiter zu Kronzeugen der Spiegel-Anklage. Die deutschen Blockwarte müssen zur Zeit ganze Arbeit leisten, wenn man den SPON-Ausführungen Glauben schenken darf.

Bleibt festzustellen: Vielleicht sollte auch in der Spiegel-Radaktion mal die Frage "Cui bono?" aufgeworfen werden. Aber dann verkauft sich das Blatt nicht mehr. Und die Klicks bleiben weg im Internet.

Da nützt auch das Stoßgebet eines Herrn Broder nicht: "Wir sind noch einmal mit dem Schrecken davongekommen. Dem Herrn sei Dank." Denn die Frage sei mir dann gestattet. Welchem Herrn sei Dank geschuldet?

Ich bin am Samstag nochmal mit dem Schrecken davon gekommen. Hatte einen sehr schlimmen Sturz mit dem Fahrrad. Mit ca. 25 km/h voll in ein anderes Rad reingedonnert. Gedankt hab ich meiner Reaktionsschnelligkeit und den Bremsen, deren Hersteller ich hier nicht namentlich erwähne. Schaden an meinem Fahrrad: keiner. Am anderen etliche. Schürfwunden und Prellungen bei mir. Bei der jungen Dame keine.
Fahrradhelm ab zum Gebet.

Fazit: Unisono ein Komplettversagen des Journalismus, zumindest des meinungsbildenden und -gebietenden, bei vier Topgelgenheiten.
Das ist nicht mehr zu toppen.
Da kauf ich mir doch lieber einen handfesten Thriller und werde hundertmal besser unterhalten und grusel mich eventuell. Nicht der Terrorismus ist es, der mir den Schrecken in die Glieder treibt. Es ist diese niveaulose und hirnrissige Schreibe- und Nölerei. Und das sollen die klügsten Köpfe Deutschlands sein?

Und der Preis geht an ...

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23348/1.html
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23367/1.html
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23370/1.html
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23375/1.html

Hier werden zumindest vernünftige Fragen und Probleme zur Diskussion gestellt.

P.S.: Wenn schon Videoüberwachung, dann richtig. Man vergleiche auch den deutschen und englischen Text.


am Strand von Amadores

*** Es werden ellenlange Artikel über Sinn oder Unsinn der Videüberwachung geschrieben. Und als Begründung muß der aktuelle Fall herhalten. Und nur einmal und eher klein schnell und nie wieder wird behauptet, libanesische Amtsbrüder hätten per Telefonüberwachung das Fahndungsrätsel gelöst. Telefonüberwachung ist aber etwas ganz anderes als Videoüberwachung. Die sieht dann nämlich so aus.



Das obige Bild stellt den Schverhalt wohl nicht richtig dar, da bin ich wohl einer Kugelsuche auf dem Leim gegangen.
Die Telefonüberwachung wird ja von der Polizei durchgeführt, wie der Playboy im Heft 12/2004 bereits, im wahrsten Sinne des Wortes, enthüllte:

Jennifer Heidrich - Playboy 12/2004