24. September 2006

Nichtwähler

23.09.06 | Nach den Landtagswahlen
Wandel in den Großstädten
Eine Einschätzung der Ergebnisse der Linkspartei.PDS

Von Benjamin Hoff


"Das Verständnis dafür, dass Wählen in einer Demokratie zur Bürgerpflicht gehört, ist seit Jahren und insbesondere bei jungen Menschen rückläufig."
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23.09.06
Sorgen mit der Trennschärfe
Nach der Wahlpleite sucht Berlins Linkspartei-Chef Klaus Lederer Erklärungen und den Dialog


"Viele differenzieren nicht zwischen Bundes- und Landespolitik. So hat manche Hartz-Wut uns getroffen...
Wir haben versucht, eigene Kernthemen, linke Themen, im Wahlkampf in den Vordergrund zu stellen...

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Wählen gehört mitnichten zur Bürgerpflicht. Und Verständnis dafür erst gar nicht. Sonst wäre es per Gesetz definiert. (Im übrigen klingt die Äußerung wie der Titel eines Seminarreferates an der Parteihochschule der SED. Oder eine der Prüfungsfragen: Begründen sie, warum die aktive Teilnahme an der sozialistischen Demokratie durch Wahlen der Stärkung des Sozialismus im Kampf gegen blablub...)
Und wenn es dann doch so wäre, würde es eine Demokratie voraussetzen. Von der ist die Republik aber genauso weit entfernt wie ich mit meinen bescheidenen Fähigkeiten am Küchenherd von einem 5-Sterne-Koch.

Für mich ist das Leben sehr einfach und überschaubar geworden. Es macht keinen Unterschied, ob jemand menschenverachtende Gesetze wie Hartz-IV initiert und auf den parlamentarischen Weg bringt, oder ob er sie, egal mit welcher Motivation, verwaltet, weil sie nun mal da sind. Hartz-IV-Politiker werden von mir aus prinzipiellen Gründen nicht gewählt.

Wenn es Scheiße auf meinen Kopf regnet, ist es mir persönlich herzlich egal, ob ich von einem SPD-, PDS- oder CDU-Senator entwürdigt, gedemütigt und entrechtet werde. Auch wenn Lederer zehnmal behauptet, sie "haben versucht, dies - so gut es geht - im Sinne der Betroffenen zu tun." Auch aromatisierte Fäkalien sind Fäkalien.

Hartz-IV ist nicht im Sinne der Betroffenen und kann demzufolge auch nicht in derem Sinne umgesetzt werden. Da ist nichts abzumildern, abzufedern, günstig zu gestalten oder sonstwas. Für Hartz-IV-Betroffene ist es schlicht eine soziale Katastrophe.

Mithin, der Linken sind u.a. deswegen so viele ehemalige Wähler ins Lager der Nichtwähler entfleucht, weil die Linke ihre Kernkompetenz verloren hat, den vehementen Eintritt für die Wahrung der Rechte der Entrechteten. Sie hat sie nicht "schlecht rübergebracht" oder "mangelhaft verkauft", sie hat diese Kompetenz schlichtweg nicht mehr. In den Augen der Nichtwähler.

Insofern kommt man der Problemlösung durch Diskussionen an der Basis und in Vorständen nur bedingt näher. Das Problem läßt sich eher im Dialog mit den Nichtwählern klären, denn die haben der Linken ihre Stimme versagt.

Will heißen. Wo ist der Gesetzentwurf der Linken für die bedingungs- und formlose Auszahlung von monatlich 1000 Euro an bedürftige Personen? Wo ist der Gesetzentwurf für einen 8-Euro-Mindestlohn für die wenigen, die noch arbeiten dürfen? Wo ist der Gesetzentwurf, der Börsentransaktionen massiv besteuert? Wo ist überhaupt ein Gesetzentwurf der Linken, der sich den Bedürfnissen ihrer natürlichen Klientel widmet?

Und wo ist der Dialog über diese Gesetzentwürfe mit dem wählenden und nichtwählendem Bürger?
Auf der Strecke geblieben.

Insofern ist mir bei dem herrlichen Wetter letzten Sonntag die Wahl zwischen Wahl- und Ausflugslokal nicht schwer gefallen. Ich hab mir mein Fahrrad unter den Hintern geschnallt und eine sehr angenehme Tour ins nichtwählende Brandenburg unternommen. Leider war bei meiner Rückkunft der Ankreuzpunkt schon geschlossen. Ich hätte es allerdings auch nicht mehr rausgerissen. Ähnlich wie ich handelten zehntausende andere Berliner.

Und ein Denkfehler soll noch ausgeräumt sein. Nicht wählen bedeutet keinesfalls, der Nichtwähler ist unpolitisch oder nicht mehr links, aus der Sicht der Linken betrachtet. Nichtwählen bedeutet nur, daß unter den gegeben Umständen und angebotenen Wahlmöglichkeiten nichts war, das man persönlich guten Gewissens hätte wählen können.
Es ist also ein Trugschluß beider o.g. Autoren, wenn sie meinen, nun gäbe es 70 000 mehr Depolitisierte. Es gibt 70 000 demotivierte frühere Linkswähler.
Doch eines ehrt sie, diese Nichtwähler. Sie sind keine "Protestwähler". Entweder die Linke oder gar keinen. Na, wenn das nichts ist.